Im November 2023 forderte Bundeskanzler Olaf Scholz ein Umdenken beim Bauen. Konkret: den „Bau von 20 neuen Stadtteilen (…) wie in den 70er Jahren“. Die DGNB hat diese Ankündigung mit Besorgnis wahrgenommen. Darüber hinaus hat am 30. November 2023 ein Gerichtsurteil die Klimaschutzpolitik der Bundesregierung als teilweise rechtswidrig eingestuft. Auf Initiative von Prof. Annette Hillebrandt von der Bergischen-Universität Wuppertal hat die DGNB daher zusammen mit zahlreichen hochrangigen Institutionen und Wissenschaftlern einen offenen Brief an den Bundeskanzler formuliert.
Den kompletten Text des Briefes gibt es auf der DGNB Website im Bereich Stellungnahmen und Positionspapiere sowie im Folgenden hier im Wortlaut.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,
mit großer Besorgnis haben wir Ihre Ankündigung wahrgenommen, der Wohnungsnot mit Neubauten auf der grünen Wiese „wie in den 1970er Jahren“ begegnen zu wollen. Seit Jahren kämpfen wir für das politische und öffentliche Bewusstsein um die umweltschädigenden Auswirkungen des Bauwesens auf unsere Lebensgrundlagen. Ihr Vorstoß widerspricht allen Erkenntnissen der Wissenschaft, ignoriert nicht nur die Empfehlungen der DGNB, sondern auch des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung, des Umweltbundesamts und der Bundesstiftung Baukultur, der Architektenkammern und Berufsverbände sowie der Umwelt- und Klimaschutzverbände und aller dort und an anderer Stelle engagierten Umweltaktivistinnen und Umweltaktivisten.
Viele Menschen arbeiten in Respekt gegenüber nachfolgenden Generationen und anderen Völkern an der Transformation unserer Wirtschaft zur Nachhaltigkeit mit. Viele Menschen in Planungsteams, Verwaltungen und Unternehmen, die Verantwortung für die Herausforderungen unserer Zeit übernommen haben, haben sich auf den Weg gemacht, haben sich qualifiziert, haben investiert. Ihre Äußerungen, Herr Bundeskanzler, stehen der Weiterentwicklung unserer Baubestände und der Bauindustrie entgegen. Sie hemmen die Chancen, sich mit vorhandenem Know-how und Engagement zu einer weltweit führenden, zukunftsfähigen Baubranche zu entwickeln – als Expertinnen und Experten für Konzepte und praktische Lösungen zur Weiterentwicklung des Baubestandes.
Deutschland hat sich zu Klima- und Flächenschutzzielen verpflichtet, die unter der von Ihnen geführten Regierung nicht eingehalten oder erreicht werden. Gerade der Flächenerhalt ist der Schlüssel zum umwelt- und klimabewussten Handeln: Er garantiert Wasserkreisläufe und Biodiversitätserhalt und er verhindert (mikro-)klimatische Hitzeentwicklung.
Die Forcierung der Innenentwicklung und das Bauen im Bestand haben langfristig positive Synergien für viele Problemfelder, darunter:
- Einhaltung des nationalen Ziels zur Flächeneinsparung
- Erreichung von Klimaschutz- bzw. Sektorzielen (Natur, Landwirtschaft, Gebäude und Verkehr)
- Vermeidung klimaschädlicher Lock-in-Effekte durch Pkw-Abhängigkeiten und weite Wege
- Verringerung von (fixen) Kosten für soziale und technische Infrastrukturen und Stärkung kommunaler Haushalte
- Effiziente Nutzung und Erreichbarkeit von Infrastrukturen, insbesondere in den vom demografischen Wandel geprägten Regionen
All das ist dem Bundesbauministerium bekannt, die Leipzig-Charta ist Konsens; das Neue Europäische Bauhaus, die EU-Taxonomie sind Realität! Sollte es in Einzelfällen Sinn machen, neue Flächen in prosperierenden Ballungszentren zu versiegeln, so nur im Flächentausch – Versiegeln in Regionen mit Zuzug gegen Entsiegeln mit Renaturierung in Regionen von Schrumpfung und Leerstand (Quadratmeter gegen Quadratmeter frei gehandelt).
Die Schaffung von dringend benötigtem, bezahlbarem Wohnraum darf nicht nach dem überkommenen Prinzip „Schneller Gewinn für wenige und Vergesellschaftung der Klima- und Umweltkosten bis in nachfolgenden Generationen“ umgesetzt werden. Die Alternative im urbanen Raum ist Ertüchtigung und Verdichtung. Die Alternative im ländlichen Raum ist Revitalisierung und funktionale Integration. Im besten Fall werden obsolete Bauten abgebaut und unter Wiederverwendung der Bauteile zu den an anderer Stelle dringend benötigten Gebäuden.
Langfristig wird es eine funktionierende (Bau-)Wirtschaft – und damit sichere Arbeitsplätze – nur durch Umbau mit energetischer Modernisierung, Aufstockungen und Anbauten geben. Das Bauen muss im Sinne des Klima- und Ressourcenschutzes als Innenentwicklung vorrangig im Bestand erfolgen, durch Umbau, Umnutzung und Aufstockung.
Die Einführung eines § 246e im BauGB ist juristisch fragwürdig, kontraproduktiv und nicht zeitgemäß. Vielmehr benötigen wir eine BauGB-Novelle, die Innenentwicklung, Nachverdichtung und das Bauen im Bestand forciert, damit bestehende Wohnraumpotenziale endlich mobilisiert sowie Ortskerne gestärkt werden können.
Als unser Bundeskanzler sind Sie mit Ihrer gesamten Regierung dazu verpflichtet, den Artikel 20a GG einzuhalten: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ Dies wurde durch das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 bestätigt.
Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat in seinem aktuellen Urteil vom 30. November 2023 die Klimaschutzpolitik der deutschen Bundesregierung teilweise als rechtswidrig eingeordnet. Dies betrifft insbesondere die Politik von Bundesbauministerin Klara Geywitz: Obwohl der Bausektor die vorgeschriebenen Klimaziele deutlich verfehlt hat, liegt bis heute kein umweltverträgliches Sofortprogramm vor. Zeigt nicht allein dieses Urteil, dass eine rückwärtsgewandte Baupolitik weder konzeptionell noch juristisch überzeugt?
In diesem Sinne bitten wir Sie dringend, Ihre Äußerungen öffentlich zu überdenken.
Freundlich Grüßen
Prof. Annette Hillebrandt (Bergische Universität Wuppertal, Initiatorin des Offenen Briefs und DGNB Mitglied)
Dr. Christine Lemaitre (Geschäftsführender Vorstand DGNB e.V.)
In Verbindung mit:
- Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Joachim Schellnhuber, CBE, Prof. Dr. Philipp Misselwitz, Prof. Dr. Jürgen P. Kropp (Bauhaus Earth)
- Dr. phil. Alexander Stumm (Universität Kassel)
- Barbara Metz (Deutsche Umwelthilfe)
- Dr. Tilmann Prinz, Andrea Gebhard (Bundesarchitektenkammer)
- Martin Wittjen (BDB Bund Deutscher Baumeister, Architekten und Ingenieure)
- Prof. Dr. Christoph Grafe (Dekanat), Prof. Marc Günneweg, Prof. Dr. Manfred Helmus, Prof. Ulrich Königs, Prof. Dr. Anica Meins-Becker, Prof. Klaus Overmeyer, Prof. Dr.-Ing. Jörg Rinklebe, Prof. Dr. Tanja Siems, Prof. Dr.-Ing. Karsten Voss, Prof. Heinrich Weid (Bergische Universität Wuppertal)
- Prof. Dr. Anja Rosen (FH Münster)
- Luisa Ropelato (Architects for Future Deutschland e.V.)
- Prof. Petra Riegler-Floors, Prof. Daniel Berger (Hochschule Trier)
- Prof. Dr.-Ing. Claudia Fülle, Prof. Dr.-Ing. Kati Jagnow (Hochschule Magdeburg)
- Prof. Dr.-Ing. Jutta Albus, Prof. Dipl.-Ing. Christian Schlüter (Hochschule Bochum)
- Prof. Dr.-Ing. Annette Hafner (Ruhr-Universität Bochum)
- Prof. Vesta Nele Zareh (Hochschule Anhalt)
- Prof. Dirk E. Hebel, Prof. Dr. Andrea Klinge, Prof. Ludwig Wappner, Prof. Dr. Riklef Rambow, Kerstin Müller (KIT Karlsruher Institut für Technologie)
- Katja Indorf (Weiterbildung-Wissenschaft-Wuppertal gGmbH)
- Prof. Dr.-Ing. Jürgen Graf, Prof. Dirk Bayer, Prof. Boris Milla, Jun.-Prof. Eva Stricker (Rheinisch-Pfälzische Technische Universität)
- Prof. Dr. Dipl.-Ing. Philipp Oswalt (Berlin Plattform)
- Prof. Adrian Naegel, Prof. Anke Hagemann, Prof. Claus Steffan, Prof. Elisabeth Broermann, Prof. Finn Geipel, Prof. Ignacio Borrego, Prof. Jan Kampshoff, Prof. Jörg Gleiter, Prof. Jörg Stollmann, Prof. Kerstin Wolff, Prof. Sandra Bartoli, Prof. Rainer Hehl, Prof. Silvan Linden, Prof. Stefanie Bürkle, Prof. Thekla Schulz-Brize, Prof. Ursula Quatember, Prof. Eike Roswag-Klinge (Technische Universität Berlin)
- Prof. Ulrich Eckey, Prof. Isabell Finkenberger, Prof. Dr. Anke Fissabre, Prof. Frank Hausmann, Prof. Markus Hermann, Prof. Stine Kolbert, Prof. Heike Matcha, Prof. Dr. Evelin Rottke, Prof. Cornelius Schlotthauer, Prof. Dr. Carolin Stapenhorst, Prof. Thomas Tünnemann, Prof. Stefan Werrer, Prof. Jörg Wollenweber (FH Aachen)
- Prof. Dr. Dr.E.h. Dr.h.c. mult. Werner Sobek (Studio Werner Sobek Stuttgart und Wien)
- Prof. Thorsten Burgmer, Prof. Yasemin Utku (TH Köln)
- Prof. Nanni Grau (Hochschule München / Hütten & Paläste)
- Daniel Fuhrhop (Wohnwendeökonom, Potsdam)
- Dr. Gregor Hagedorn (Museum für Naturkunde Berlin)